Über die PISA-Studie wurde in den vergangenen Jahren viel geschrieben. Wie auch immer man ihr gegenüber stehen mag, Fakt ist: Sie hat die wichtigste Bildungsdebatte der vergangenen Jahrzehnte angestoßen, und sie hat es verdient, dass man sich näher mit ihr auseinander setzt und die Hintergründe versteht.
Der „Vater“ der PISA-Studie ist Andreas Schleicher, gelernter Physiker und Mathematiker, dessen Vater Erziehungswissenschaftler war. Während seines Physikstudiums in Hamburg besuchte Andreas Schleicher aus Neugierde ein Seminar von Thomas Neville Postlethwaite, einem Professor für vergleichende Erziehungswissenschaften. In diesem Seminar ging es um eine international vergleichende Lesestudie, und der Professor wollte von Schleicher wissen, ob man Methoden aus der Physik herannehmen könnte, um Leistungsgewinne zu bewerten. Daraufhin entwickelte der junge Student eine Methode zur Erhebung und Auswertung der Daten. Das gelang ihm so gut, dass Postlethwaite ihn einlud, dass Ergebnis auf einer Bildungskonferenz in Washington zu präsentieren.
Nach seinen Mastern in Mathematik und Statistik, die Schleicher mit einer preisgekrönten Arbeit abschloss, holte ihn die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mit nicht einmal 30 Jahren in ihre Bildungsabteilung nach Paris. Hier wurde die PISA-Studie geboren, wobei es fünf Jahre dauerte, in denen massive Überzeugungsarbeit geleistet werden musste, um die arroganten und ignoranten Bildungspolitiker der 25 Mitgliedsstaaten zur Zustimmung zu bewegen, die sich mit allen möglichen Argumenten und vorgeschobenen Gründen sträubten, und jeder ließ den anderen wissen, dass es in seinem Land selbstredend am besten laufe. Mit Hilfe des „Programme for International Student Assessment“ sollten Schulleistungen beim Lesen, in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern verglichen werden.
Bis heute kursieren zur PISA-Studie eine Menge Meinungen und Gerüchte, getreu der Devise „kaum einer weiß, worum es wirklich geht, aber alle reden mit“, und viele Missverständnisse sind immer noch nicht ausgeräumt. Daher lohnt sich der Blick hinter die Kulissen.
PISA ist ein lang angelegtes Projekt mit anfangs drei großen Etappen, den sogenannten Erhebungszyklen. Jeder Zyklus umfasst alle drei Kompetenzbereiche, allerdings mit wechselndem Schwerpunkt. 2000 war der Schwerpunkt die Lesekompetenz, 2003 die mathematische und 2006 die naturwissenschaftliche Kompetenz – wobei dem Schwerpunkt jeweils zwei Drittel der Testzeit zugebilligt werden, sodass dieser differenzierter untersucht werden kann.
PISA zielt nicht darauf ab, Faktenwissen zu überprüfen. Vielmehr soll herausgefunden werden, inwieweit die Jugendlichen in der Lage sind, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in realistischen Situationen anzuwenden und zur Bewältigung von Alltagsproblemen zu nutzen.
So bedeutet Lesekompetenz nicht einfach nur lesen können; es geht vielmehr darum, geschriebenen Texten gezielt Informationen zu entnehmen, die Inhalte zu verstehen, zu interpretieren und das Material zu bewerten. Dabei werden verschiedene Arten von Texten wie Erzählungen, Beschreibungen, Anweisungen, Tabellen, Diagramme oder Formulare eingesetzt. Bei der mathematischen Kompetenz geht es nicht um Kenntnis mathematischer Sätze oder Formeln, sondern um die Fähigkeit, mathematische Begriffe als Werkzeuge in unterschiedlichen Kontexten einzusetzen. Und zu den naturwissenschaftlichen Kompetenzen gehört ein Verständnis grundlegender naturwissenschaftlicher Konzepte und diese bei unterschiedlichen Sachverhalten anwenden zu können sowie aus Beobachtungen oder Befunden angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen. Beispiel Klimawandel: Den Schülern wird in der Aufgabenstellung verraten, wie die Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas sowie die Rodung von Wäldern zur Entwicklung von Treibhausgasen beitragen. Dieses Wissen sollen Sie dann aber auf neue Zusammenhänge übertragen, Ursache und Wirkung auseinanderhalten und Schlussfolgerungen daraus ziehen.
Die Testaufgaben wurden in enger Zusammenarbeit nationaler und internationaler Expertengruppen entwickelt, und die Aufgabenstellungen waren für alle Schüler gleich, egal ob in Japan oder Schweden, an Gymnasien oder Hauptschulen. Im Jahr 2000 ging dann die erste PISA-Etappe an den Start: In 32 Staaten rund um den Globus wurden jeweils 4.500 bis 10.000 Schüler (insgesamt 180.000) im Alter von 15 Jahren geprüft. Das Resultat bescherte vor allem Deutschland den ersten Schock und eine bis heute andauernde Debatte.
In allen Kompetenzfeldern landete Deutschland auf den Plätzen 20 und 21, während die Gewinner Südkorea, Japan und Finnland hießen. Klare Verlierer in allen Bereichen waren Luxemburg, Mexiko und Brasilien. Dieses schlechte Abschneiden hatte in Deutschland niemand erwartet, und was besonders bitter war: Der Leistungsabstand zwischen privilegierten Schülern und denen aus den unteren sozialen Schichten war nirgendwo so groß wie in Deutschland. Nicht immer schnitten Deutschlands Gymnasiasten besser ab als die Hauptschüler, und zwischen den einzelnen Ländern der Bundesrepublik gab es kaum bedeutsame Unterschiede.
In der zweiten Testetappe, 2003, schnitten die deutschen Schüler besser ab, waren aber immer noch unter dem OECD-Durchschnitt. In der dritten Etappe, 2006, an der mittlerweile 57 Länder teilnahmen, erreichten Sie in den Naturwissenschaften den 8. Platz, in den anderen beiden Kompetenzfeldern den 14. Platz. In der vierten Etappe, 2009, waren die Deutschen in der Lesekompetenz zwar im Durchschnitt, lagen aber im Vergleich zu den besten Ländern um ein Jahr zurück.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich zwar in Deutschland im Laufe der Zeit etwas getan hat, denn die Blamage war riesengroß und eine schallende Ohrfeige für die Bildungsminister, dennoch hinterlässt es Unbehagen, zu sehen, dass wir teilweise um Jahre hinter asiatischen Ländern zurückliegen. Noch immer ist der Schulerfolg in Deutschland besonders stark abhängig von der sozialen Herkunft. Kinder reicher oder gebildeter Eltern haben wesentlich bessere Chancen. Seit Dezember 2013 liegen die Ergebnisse der letzten PISA-Studie vor. Erfreulich ist hier für Deutschland, dass man stark aufgeholt hat und mittlerweile in allen drei Bereichen über dem Durchschnitt liegt. Die Spitzenreiter – und davon sind wir leider immer noch meilenweit entfernt – finden sich nach wie vor jedoch in Ostasien: Die Städte Shanghai, Hongkong und Macau (China) sowie Singapur, Chinesisch Taipeh, Korea und Japan sind in allen drei getesteten Bereichen ganz vorn.
Letztlich stehen hinter PISA drei Fragen:
- Werden die Jugendlichen heute in der Schule gut genug gerüstet, um sich in der Welt von morgen zurechtzufinden?
- Verfügen sie über jene Grundkompetenzen, auf deren Basis sie sich selbst Bildung aneignen können?
- Können sie das, was sie in der Schule gelernt haben, auf andere Zusammenhänge übertragen?
Die Kritik an der PISA-Studie reißt bis heute nicht ab, und Andreas Schleicher wird als Miesmacher und Provokateur bezeichnet. Das ist nichts Neues: Schon früher ging es dem Überbringer schlechter Nachrichten schlecht; das ist heute nicht viel anders. Die Politiker bekommen eindeutig den Spiegel vorgehalten, und ihnen gefällt nicht, was sie sehen. Dennoch scheint dieser Spiegel doch dafür zu sorgen, dass sich etwas in diesem Land ändert, wie die aktuellen Studien zeigen.
Das ist in einem Hochtechnologie-Land, das sich als Exportweltmeister bezeichnet, auch dringend notwendig. Denn problematisch ist nach wie vor in Mathematik der große Geschlechterunterschied zum einen in den Leistungen zum anderen aber auch hinsichtlich der Einstellung zur Mathematik. In Deutschland erzielten die Jungen in Mathematik durchschnittlich 14 Punkte mehr als die Mädchen und fatal daran ist, dass sich dieser Abstand seit 2003 dramatisch ausgeweitet hat. Auch im OECD-Mittel schneiden Mädchen deutlich schlechter ab als Jungen. Selbst da, wo Jungen und Mädchen gleiche Ergebnisse haben, sind Mädchen der Mathematik gegenüber negativer eingestellt. Ihr Vertrauen in die eigenen mathematischen Fähigkeiten ist geringer, ebenso ihre Motivation und ihre Ausdauer beim Lernen. Insgesamt geben sie häufiger an, Angst vor Mathematik zu haben als Jungen. Das ist umso erschreckender, als dass das Geschlecht zumindest in der Mathematik keine „genetische Rolle“ oder ähnliches spielt. Ich höre immer wieder aus dem Umfeld von Professoren, dass Mädchen sogar besser rechnen können als Jungen.
Die PISA-Studie deckt hier klare Mängel in unserem Bildungssystem auf, was unsere Kultusminister zum Anlass nehmen sollten, ihre Arbeit und ihre Leistungen kritisch unter die Lupe zu nehmen und massive Änderungen in der Bildungslandschaft vorzunehmen, statt sich darauf zu konzentrieren, in der nächsten Legislaturperiode wiedergewählt zu werden und sich auf die Brust zu klopfen, was bereits alles erreicht ist.
Der elende Bildungsföderalismus gehört abgeschafft, die Verbeamtung der Lehrer auch. Wir brauchen exzellente und scharfe Auswahlkriterien für diejenigen, die Lehramt studieren wollen, um die zukünftigen Lehrer vor sich selbst, aber auch unsere Kinder vor den unfähigen Lehrern zu schützen – und zwar für alle Schulformen, angefangen bei den Grundschulen.
Wir brauchen dringend an den Grundschulen Lehrkräfte, die nicht auf Grundschullehramt studieren, weil sie Kinder ganz gern mögen, gern basteln und vorlesen, aber aufgrund der miesen Bezahlung nicht Kindergärtnerin werden wollen, sondern begeisterte junge Leute, die es verstehen, Kindern den Spaß an Zahlen, an naturwissenschaftlichen Phänomenen und am Lernen zu vermitteln. Nur: Wer dieses Talent nicht schon mitbringt, der sollte es zumindest im Studium durch neue Lehr- und Lernmethoden vermittelt bekommen.
Daher brauchen wir dringend ein komplett revolutioniertes Lehramtsstudium, das sich endlich aus verstaubten und längst überholten Theorien verabschiedet und unsere zukünftigen Lehrer in die Lage versetzt, nach modernen Methoden didaktisch erstklassig ausbilden zu können. Den Drill der Asiaten müssen wir ja nicht gleich übernehmen.
Wir brauchen endlich ein Bewertungs- und Leistungssystem für Lehrer, um die „faulen Äpfel“ auszusortieren und neuen, innovativen Kräften den Weg freizuräumen. Der Blick über den Tellerrand in andere Länder ist da ausgesprochen hilfreich!
Und wir sollten unbedingt darüber nachdenken, ob Disziplin nicht doch eine Eigenschaft ist, die wir auch in Schulen wieder dringend benötigen. Während wir in Deutschland die antiautoritäre Erziehung mangels Konfliktunfähigkeit im Elternhaus und aufgrund von Hilflosigkeit und Ohnmacht auf Seiten der Lehrer und Rektoren immer stärker manifestieren, gibt es in anderen europäischen Schulen unangenehme Strafen, die dazu führen, dass lärmende Schulklassen, aus dem Fenster fliegende Ranzen, Beschimpfungen der Lehrkräfte und noch vieles andere mehr völlig undenkbar sind.
Dass andere Lehr- und Lernsysteme hervorragend funktionieren, zeigen in Deutschland vereinzelt einige Schulen, die sich wohltuend hervorheben, so die Anne-Frank-Realschule in München-Pasing, die kürzlich den Deutschen Schulpreis gewonnen hat. An ihr und an den Preisträgern der vergangenen Jahre sollten sich andere Schulen dringend ein Beispiel nehmen!